· 

Rezension: "Scham" - Inès Bayard

Gestern erschienen ist das Debüt "Scham" der französischen Autorin Inès Bayard, das in Frankreich auf der Longlist des Prix Goncourt 2018 stand und nun in der Übersetzung von Theresa Benkert auf Deutsch vorliegt.

Es ist ein erschreckendes Buch, es ist ehrlich und schonungslos, es ist aufwühlend und ergreifend und es zeigt, wie gefährlich Scham sein kann und wie es geschehen kann, dass aus einem Opfer durch den Lauf der Dinge eine Täterin wird.

 

Der Beginn des Romans nimmt das grausame Ende der Geschichte bereits vorweg, der Leser wird somit direkt in die Handlung hineingeworfen. Eine junge Mutter sitzt mit ihrem Ehemann und dem kleinen Sohn beim Essen - alle drei sind tot, vergiftet - von der jungen Mutter. Doch wie hatte es soweit kommen können? Was war passiert, dass die junge Frau nur diesen Weg sah, um "endlich Frau der Lage" zu werden, "eine der Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen"? Der Roman enthüllt nach diesem ersten Kapitel die Ereigniskette Stück für Stück.

 

Marie arbeitet sehr erfolgreich als Bankberaterin in einer Pariser Bank, sie hat ein gutes Verhältnis zu ihren Kolleg*innen, sie hat einen Mann, der als Anwalt arbeitet, die beiden wohnen in einer schönen Wohnung - die Idylle scheint perfekt. Doch Inès Bayard streut auch in diesen ersten Schilderungen bereits Zweifel und kleine Risse. Während Marie sich für die Beziehung engagiert und ihrem Mann beinah jeden Wunsch von den Augen abliest, ist Laurent oft mit seinen Gedanken in der Kanzlei, kommt spät nach Hause und redet dann gerne über seine Fälle, so dass es für Marie nicht leicht ist gewichtige Dinge anzusprechen. So fällt auch die Entscheidung für ein gemeinsames Kind mitten in einer dieser unangenehmen Gesprächssituationen beim Essen - Laurent fällt sogar das Stück Fleisch aus dem Mund. Marie schwebt dennoch auf Wolken, ihre kleine perfekte Welt wird durch das Kind nur noch perfekter werden.

Ihre Träume zerplatzen jedoch schon am nächsten Tag. Als sich Marie auf den Nachhauseweg begeben will, stellt sie fest, dass ihr Fahrrad mutwillig zerstört wurde. Es regnet in Strömen, sie macht sich auf den Weg zu Fuß zur nächsten Metrostation, als ein Auto langsam neben ihr herfährt. Es ist der Direktor ihrer Bank, der ihr anbietet, sie nach Hause zu fahren und man möchte als Leserin rufen "Nein, tu es nicht!" und doch steigt sie zu ihm ins Auto. Der Direktor fährt Marie zwar nach Hause, aber vorher vergewaltigt er sie in seinem Auto auf einem privaten Parkplatz und droht ihr anschließend ihre Karriere und die ihres Mannes zu zerstören, wenn sie mit irgendjemandem über das Geschehene spricht.

Marie geht nach Hause, duscht sich, legt sich ins Bett und versucht zu schlafen, was ihr nicht gelingt. Und Laurent, der in Gedanken schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt ist, bemerkt nicht die Veränderungen an seiner Frau, in ihrem Verhalten, spürt nicht ihren Schmerz und ihre Trauer. Statt dessen schlägt er ihr vor, es mit dem Kindermachen sofort zu versuchen und Marie lässt auch diesen wenig einfühlsamen Akt über sich ergehen, aus Scham, aus Verzweiflung, aus Sprachlosigkeit. Doch es kommt ihr vor wie eine zweite Vergewaltigung. "Der Sadismus ihres Vergewaltigers scheint ihr genauso wie der ihres Mannes, der nicht bemerkt, wie sie leidet."

Eine schreckliche Spirale ist in Gang gesetzt. Marie weiß nicht mehr aus noch ein, das Thema Vergewaltigung scheint ihr nun immer wieder in anderen Zusammenhängen zu begegnen und stets sind es Männer, die das Thema abtun, so dass Marie sich mehr und mehr unsicher fühlt. Als sie schließlich bemerkt, dass sie schwanger ist, bricht ihre Welt endgültig zusammen - was wenn das Kind von ihrem Vergewaltiger ist?

Und Maries Umfeld ist unfassbar unempathisch. Niemand scheint etwas zu bemerken. Und diejenigen, die etwas bemerken finden die Schuld schnell bei Marie. Hinter die Fassade mag niemand schauen.

 

Inès Bayard schafft es in ihrem Romandebüt, die Kreise immer enger und enger zu ziehen. So eng, bis es für Marie nur noch diesen einen Weg gibt. Permanent hatte ich das Gefühl Marie packen und schütteln zu wollen, sie anzuschreien "Sag es!". Und gleichzeitig konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen, die Scham davor als versehrt und beschmutzt zu gelten, die Angst davor das ihr niemand glaubt, die Angst, dass ihr Peiniger doch Recht bekommt und ihm mehr Gehör und Glaube geschenkt wird. Scham und Angst, Gefühle, die so viele Opfer kennen und die eigentlich den Tätern vorbehalten sein sollten: die Scham, einem anderen Menschen ein großes, unheilbares Leid angetan zu haben und die Angst, angezeigt und verurteilt zu werden.

 

 

Inès Bayard

"Scham"

Übersetzt aus dem Französischen von Theresa Benkert

Zsolnay Verlag

fester Einband: ISBN 978-3-552-05976-4, 22€

epub: ISBN 978-3-552-05991-7, 16,99

 

Ein ähnliches Thema behandelt der Roman "Das Mädchen auf dem Eisfeld" von Adelaïde Bon, dass ich auf Instagram im März 2019 vorgestellt habe.

Alle meine Rezensionen in alphabetischer Reihenfolge gibt es hier.

 

P.S.: Für alle die noch mehr zu dem Roman erfahren wollen, es gibt ein interessantes Kurzinterview mit der Autorin über den Roman und eine Leseprobe auf der Internetseite des Verlages.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0