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Rezension: "Der Widersacher" - Emmanuel Carrère

1999 erschien die französische Originalausgabe unter dem Titel "L'Adversaire", 2001 wurde der Roman erstmals ins Deutsche übertragen und erhielt im Fischer Verlag den Titel "Amok".

Nun viele Jahre später wurde der Tatsachenbericht im Matthes & Seitz Verlag neu übersetzt und verlegt. Claudia Hamm, die schon die restlichen Carrère-Romane (alle neu verlegt bei Matthes & Seitz) übersetzte, war auch hier für die Übersetzung verantwortlich. Für die Übersetzung von Carrères "Das Reich Gottes" war Hamm für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt 2016 den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Tatsächlich ist, um das vorwegzunehmen, auch im vorliegenden Fall die Übersetzung meisterhaft gelungen.

 

Carrère greift in seinem Roman einen Fall auf, der Frankreich 1993 erschütterte. Jean-Claude Romand, der bis dahin ein unauffälliges Leben als Familienvater und angesehener Mediziner bei der WHO führte, tötet seine Frau und seine zwei Kinder, fährt zu seinen Eltern tötet auch diese, bevor er sein Haus in Brand steckt, um möglicherweise selbst in den Flammen zu sterben. Er überlebt den Brand schwer verletzt. Als er aus dem Koma erwacht sind seine unfassbaren Lügen der letzten 18 Jahre bereits publik geworden. Romand hat sein Studium nie beendet, hat nie einen Abschluss von der Universität erhalten, er hat nie seine notwendigen Praktika als Mediziner absolviert und er hat nie bei der WHO gearbeitet. Alles Geld, dass er ausgab war von Familienangehörigen und Freunden unter falschen Versprechungen ergaunert.

 

Carrère schildert, wie er von dem Fall erfuhr und Kontakt zu Romand aufnahm, in dem Willen über ihn und seine Geschichte zu schreiben. Romand antwortet jedoch erst zwei Jahre später, nach Abschluss der Ermittlungen, auf Carréres Kontaktaufnahme. Die beiden stehen von da an im Kontakt und Carrère begleitete den Prozess, um die Frage zu ergründen "Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen?". Die besondere Gabe des Autors liegt darin nicht das "Warum?" der Tat ergründen zu wollen, sondern von außen beobachtet, befragt, und beschreibt.
Daraus entsteht ein Bild der Entwicklung Jean-Claude Romands von den Anfängen seines Studiums, über die schreckliche Tat bis zum Ende des Prozesses. Beinah atemlos kann der Leser mitverfolgen, wie Romand sich durch Lügen und nicht ausgesprochene Wahrheiten immer tiefer und tiefer in die Misere verstrickt, wobei er nicht nur meint alle Lügen aufrecht erhalten zu müssen sondern schon bald nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann. Seine Lügen nimmt er schließlich selber als Wahrheit wahr.
Alles beginnt damit, dass er eine Prüfung am Ende des zweiten Semesters nicht schreibt und dadurch nicht für das dritte Semester zugelassen wird. Obwohl er Kommilitonen hat, bekommt von diesem Ereignis niemand etwas mit und Romand hält die Fassade aufrecht, in dem er weiterhin zu Uni geht, in der Bibliothek sitzt und mit seiner Freundin lernt. Niemand schöpft jemals Verdacht, auch nicht, als Romand vorgibt bei der WHO zu arbeiten. Romand perfektioniert sein Doppelleben, liest Reiseführer während vorgetäuschter Dienstreisen, damit er von unterwegs erzählen kann, er besorgt Geschenke am Flughafen, die seine Reise bestätigen sollen. Nicht immer sind es ausgesprochene Lügen, die die Spirale weiterdrehen, oftmals ist es auch das Schweigen und Nichts-Sagen, die zur nächsten Unwahrheit führt.
Immer wieder findet er Menschen in seinem Umfeld, die ihr Geld anlegen wollen und die er ködert indem er vorgibt über die WHO zu besonders guten Konditionen in der Schweiz Geld anlegen zu können. Niemals verlangt jemand einen Beleg über die Buchungen von Romand und so wandert das Geld in seine eigene Tasche.

Erst als er eine Affäre beginnt und auch hier eine große Summe Geld ergaunert beginnt sein Spiel gefährlich zu werden. Seine Geliebte verlangt ihr Geld zurück, Geld das Romand selbstverständlich schon ausgegeben hat und so droht zum ersten Mal sein Lügengerüst zusammenzubrechen.

 

Carrère schaut in die Abgründe der menschlichen Psyche und lässt durch die Ich-Perspektive des Tatsachenberichts den Leser an diesem Prozess unmittelbar teilhaben. Die Stärke des Romans liegt in seiner klaren Sprache, in seiner präzisen Formulierung. Sehr genau beobachtet und analysiert der Autor und beschränkt sich dabei auf die relevanten Details ohne sich in Gefühlen oder Verurteilungen zu verstricken. Selbiges gelingt auch der Übersetzerin. Zu keiner Zeit hat man als Leser das Gefühl, dass die Übersetzung hakt - jedes Wort scheint genau überlegt zu sein.

 

Trotz des schweren Themas, trotz der Abgründe in die der Leser blicken muss, ist der Roman ein wahrer Lesegenuss. Es wird sicher nicht mein letztes Buch dieses Autors gewesen sein. Meine Empfehlung: LESEN!

 

Emmanuel Carrère

"Der Widersacher"

Matthes & Seitz Verlag, ISBN 978-3-95757-612-5, 22€

 

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