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Rezension "Mein Ein und Alles" - Gabriel Tallent

Erst durch die Verlagsvertreterin bin ich auf dieses Buch aufmerksam geworden. Sie hat das Buch mit so einer Vehemenz angepriesen, ohne auch nur ein Wort über den Inhalt zu verlieren, dass ich nicht anders konnte, als es sofort aus dem Regal mit den Leseexemplaren zu nehmen. Und ich war geschockt! Bereits die ersten 30 Seiten übertreffen inhaltlich meine schrecklichsten Alpträume. Ganz ehrlich habe ich das Buch nach dem 1. Kapitel zugeschlagen und musste erst einmal durchatmen. Einige Wochen lag das Buch dann wieder unangetastet im Regal. Bis ich nach meinem Jugendbuchwochende auf der Suche nach etwas Forderndem war. Ich habe mich also noch einmal herangetraut und über Instagram Bestätigungen bekommen, dass es sich lohnt, das Buch bis zum Ende zu lesen. Ich war immer noch skeptisch, aber ich habe es getan, ich bin mit Turtle durch die tiefsten Tiefen gegangen und kann jetzt sagen: "Ich bin froh, dass ich dieses Buch gelesen habe!" Es gehört mit zu den berührendsten, aufrichtigsten und schonungslosesten Büchern, die ich jemals gelesen habe

 

Doch worum geht es eigentlich? Es geht um Julia. Julia ist 14 Jahre alt und wird von allen nur Turtle genannt. "Alle", ist vorallem ihr Vater, ein intelligenter, wenn auch sehr weltfremder und entrückter Mann, der sich, nach dem Verlust seiner Frau, einerseits in Weltuntergangsszenarien verliert und sich andererseits in eine obsessive Liebe zu seiner Tochter hineinsteigert. Er misshandelt seine Tochter auf jede erdenkliche Weise (was im Buch auch drastisch geschildert wird, u.a. an der Stelle, wo ich zunächst abgebrochen hatte zu lesen). Julia kennt jedoch Familienleben nicht anders und so nimmt sie ihren Vater in Schutz, verheimlicht in der Schule, was zuhause passiert und verspürt selbst körperliches Verlangen nach der erdrückenden Nähe ihres Vaters.
Einmal entkommt sie der Situation fast, sie verlässt das Haus in der Nacht und streunt durch die Wälder. Sie stellt sich vor, was passieren würde, wenn sie nicht mehr zurückkehrt und malt sich aus, wie ihr Vater sie in den Wäldern sucht und welche schlimmen Dinge er dann mit ihr anstellen würde. Statt von ihrem Vater gefunden zu werden, findet Julia zwei Jungs im Wald, die sich bei einem Zelttrip verirrt haben. Julia lernt zum ersten Mal Freundschaft und Nähe zu anderen Menschen kennen und verliebt sich in Jacob (ohne, dass sie es als Liebe erkennt). Die Abwesenheit von zuhause dauert nur wenige Tage, die erwartete Strafe bleibt zunächst aus. Durch ihre neuen Gefühle, verändern sich jedoch Julias Einstellung und ihr Verhalten gegenüber ihrem Vater, der nicht dulden kann, dass seine Tochter Gefühle für jemand anderem außer ihm hegt. Die darauffolgenden Prügel überlebt Julia nur knapp.
Es scheint ein Wendepunkt in der Geschichte erreicht zu sein. Der Großvater bekommt Wind von Julias tatsächlicher Situation, mischt sich ein, erliegt aber einem Hirnschlag. Der Vater verlässt daraufhin das Haus und kehrt viele Wochen nicht zurück, Wochen in denen Julia auf sich allein gestellt ist und ein inniges Verhältnis zu Jacob aufbaut. Als der Vater schließlich wieder auftaucht, hat er ein "neues" Mädchen im Schlepptau und Julia begreift langsam, dass es so nicht weitergehen kann. Sie wächst über sich hinaus und vollbringt beinah unmögliches.

 

Das Buch, das die Situation von außen beschreibt, dabei aber immer ganz nah an Turtle ist, schont den Leser nicht. Es ist wahrlich schwer zu ertragen und zu lesen, was Turtle erleiden muss. Gleichzeitig übt dieses Mädchen auf den Leser eine unglaubliche Faszination aus, eben weil sie sich nicht brechen lässt. Sie ist wie eine Schildkröte, sie umgibt sich mit einem Panzer in dem sie ihr weiches verletzliches Inneres schützt. Als Leser weiß man, dass das Innere längst Schäden davon getragen haben muss - Julias Verhalten und ihre Sprache zeugen davon - doch Julia hat ihren Lebensmut nicht verloren.
Mich konnte der Schluss des Romans mit der Geschichte versöhnen. Es ist kein Happy-End im klassischen Sinne, aber es ist eine (im Rahmen der Möglichkeiten) realistische Auflösung der Situation und ein Ende, das absolut zum Verlauf der Geschichte passt.

 

Das Buch gehört zu den unbequemen Büchern, zu den Büchern, die einem in Erinnerung rufen, dass jeden Tag Kinder misshandelt und gequält werden. Es ist ein Thema, das aufwühlt und lange nachhallt. "Mein Ein und Alles" ist darin für mich zu vergleichen mit dem vor einigen Jahren erschienenen (und bereits verfilmten) "Raum" von Emma Donoghue. Vom Stil und der Intensität weist es für mich in die Richtung, die im Frühjahr mit "Eine Geschichte der Wölfe" von Emily Fridlund eingeschlagen wurde.

 

Meine Empfehlung: LESEN!

 

Gabriel Tallent

"Mein Ein und Alles"

Penguin-Verlag, ISBN 978-3-328-600282, 24€

 

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