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Rezension: "Dann schlaf auch du" - Leïla Slimani

Dies (!) ist mit Abstand einer der intensivsten Romane, den ich in meinem Leben gelesen habe. Kein Buch hat mich jemals auf solche Weise berührt und aus der Fassung gebracht. Kein Buch gab es, bei dessen Lektüre ich mich derart beschmutzt gefühlt habe, wie bei diesem aus dem Französischen von Amelie Thoma übersetzten Roman der französisch-marokkanischen Autorin Leïla Slimani. "Dann schlaf auch du" erschien bereits im Sommer 2017 auf Deutsch. Der Roman wurde mit dem höchsten Literaturpreis Frankreichs, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet - sehr zurecht!

 

Das tragische Ende der Geschichte wird auf den ersten Seiten des Romans bereits vorweggenommen, der/die Leser*in wird mitten hineingeworfen und mit dem Unfassbaren konfrontiert. Zwei Kinder sind Opfer des Verbrechens durch die Hand der Kinderfrau geworden. Das Baby ist bereits tot. Das kleine Mädchen stirbt im Krankenhaus. Bereits auf diesen ersten Seiten zeigt sich die Wucht, mit der Slimani schreibt:

"Die Mutter stand unter Schock. Das haben die Feuerwehrleute gesagt, die Polizisten wiederholt, die Journalisten geschrieben. Als sie das Zimmer betrat, in dem ihre Kinder hingestreckt lagen, hat sie einen Schrei ausgestoßen, aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin. Es hat die Mauern zum Erzittern gebracht, und die Nacht ist über diesen Maitag hereingebrochen. Sie hat sich übergeben, und so fand sie die Polizei, mit verschmierten Kleidern, im Zimmer zusammengekauert, schluchzend wie eine Wahnsinnige." (S. 9-10)

 

Stück für Stück fädelt Slimani daraufhin die Ereigniskette auf, die zu dieser grausamen Tat durch die Hand der Kinderfrau geführt hat.

Paul und Myriam lieben beide ihren Beruf, er in seinem eigenen Tonstudio, sie als Anwältin. Die Kinder sind zwar geplant, aber mit den dadurch entstehenden Einschränkungen hat keiner der beiden gerechnet. So suchen beide recht schnell den Weg zurück in die Vollzeitarbeit und benötigen eine Kinderfrau, die Mila und Adam betreut. Nach verschiedenen Anläufen treffen sie auf Louise - eine Begegnung, wie Liebe auf den ersten Blick. Louises Papiere sind in Ordnung und die vorherigen Arbeitgeber absolut begeistert von ihr, sie wird also eingestellt.

 

Die Wohnung der Familie verändert sich durch Louises Anwesenheit. Die Räume werden wärmer, Louise ist immer zur Stelle, sie tut weit mehr, als man von einer Kinderfrau erwarten kann. Sie kocht und putzt, sie räumt auf, sorgt dafür das auf dem Tisch frische Blumen stehen und sie merkt, wenn Myriam etwas auf der Seele brennt. Darüber hinaus hat sie ein ganz besonderes Verhältnis zu den Kindern, die sie abgöttisch lieben. Alles scheint perfekt zu sein.

 

Doch was zunächst als ideale Familienidylle erscheint, war für mich beim Lesen schnell mit einem kalten Gruseln im Nacken verbunden. Louise, die immer so gewissenhaft ist, die morgens stets pünktlich da ist, die absolut selbstlos ihr eigenes Leben aufgibt und unbezahlt Überstunden macht, die schließlich dann und wann unangekündigt auf dem Sofa übernachtet - irgendwas an ihr ist unheimlich und unnahbar. Beim Kindergeburtstag von Mila übernimmt Louise das Kommando, Myriam ist in ihrer eigenen Wohnung nur noch Zuschauerin, die ersten sanften Rissen durchziehen das perfekte Bild.

 

Immer jedoch wenn Myriam oder Paul etwas bemerken, das ihnen merkwürdig vorkommt, so beruhigen sie sich selbst. Sie sagen sich, dass sie Louise sicher unrecht tun, dass sie die Situation vielleicht falsch einschätzen. Und obwohl beide mit beiden Beinen mitten im Leben stehen, ist es ihnen unangenehm Louise gegenüber Bedenken, Zweifel oder Kritik zu äußern. Zu sehr sind sie auf die Annehmlichkeiten, die sie durch die Kinderfrau haben, angewiesen.

 

Je weiter die Erzählung fortschreitet, um so klaustrophobischer wurde mein Leseempfinden. Je weiter ich las, um so beschmutzter fühlte ich mich allein dadurch, dass Slimani mich an den Gedanken von Louise teilhaben ließ, durch die deutlich wurde, wie sehr die vom Leben gebeutelte und psychisch angeschlagene Frau sich an dieser Stelle und somit im Leben der Familie festbeißt. Niemand bemerkt, wie schlecht es Louise unter ihrer Fassade geht. Selbst als die Fassade zu bröckeln droht, finden Myriam und Paul einen Weg, wegzusehen. So kommt es zum Äußersten: die Frau, die selbst auf verschiedene Weise in ihrem Leben zum Opfer geworden ist, wird zur Täterin.

 

Doch ich lese in Slimanis Text auch eine tiefere Ebene, eine Kritik an der Gesellschaft, an der Sprachlosigkeit zwischen den Menschen und daran, dass die meisten Menschen zu wenig auf ihr Umfeld und ihre Mitmenschen achten: Myriam und Paul, denen in einem ehrlichen Gespräch vielleicht doch das ein oder andere komisch vorgekommen wäre, hätten ihre Jobs nicht an erster Stelle gestanden. Die anderen Mütter und Kinderfrauen auf dem Spielplatz, die Louise nie näher kennengelernt oder sich für sie interessiert haben. Die Männer in Louises Umfeld, die sie immer nur unterdrückt und jeder auf seine Weise klein gehalten haben. Niemand sah Louises Not, niemand hat ihr geholfen und somit hat niemand die Kinder gerettet.

 

Ich habe schon viele Romane gelesen, aber so eine düstere Bedrohung, so eine unheilvolle Atmosphäre habe ich selten in einer Geschichte wahrgenommen, insbesondere nicht, wenn der Ausgang der Geschichte bereits bekannt war.
In seiner Intensität ist der Roman für mich vergleichbar mit "Alles über Heather" (Matthew Weiner), "Mein Ein und Alles" (Gabriel Tallent) oder "Dunkelgrün fast Schwarz" (Mareike Fallwickl). Ein so andauerndes unwohles Gefühl hat aber keiner dieser Romane bei mir erzeugt.

Und weil ich bei Instagram zu meiner gestrigen Rezension von "Scham" von Inès Bayard den Hinweis erhalten habe, dass die beiden Bücher ja vergleichbar seien, möchte ich hier hinzufügen, ja, es geht in beiden Romanen um Frauen, die vom Opfer zur Täterin werden. Allerdings lässt Slimani ihre Protagonistin viel subtiler und leiser zum Opfer werden. Sie wird nicht durch eine gewaltätige Handlung zum Opfer, sondern durch viele kleine Handlungen und Entscheidungen ganz unterschiedlicher Menschen. Und genauso wird sie durch die Bequemlichkeit und das Wegsehen von vielen schließlich zur Täterin. Die beiden Bücher zu vergleichen würde keinem der Themenkomplexe gerecht werden.

 

Ich möchte eine große Leseempfehlung für "Dann schlaf auch du" aussprechen - allerdings verbunden mit einer mindestens ebenso großen Triggerwarnung!

 

Leïla Slimani

"Dann schlaf auch du"

Hardcover: Luchterhand Verlag, ISBN 978-3-630-87554-5, 20€

Taschenbuch: btb-Verlag, ISBN 978-3-442-71742-2, 10€

epub: ISBN 978-3-641-21290-2, 9,99€

 

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