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Rezension: "Unwetter" - Marijke Schermer

"Sie fasste die Heirat als Verheißung eines Neuanfangs auf, den endgültigen Abschied von anderen Dingen, anderen Lieben, erlittenen Verletzungen. Besser und definitiver ging es nicht. Es war eine Flucht, die Suche nach der Zuflucht unter der Glasglocke."

 

Im wunderbaren Kampa-Verlag erschien gerade dieser schmale mitreißende Roman von Marijke Schermer als Taschenbuch, aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Ich habe an einem regnerischen Sonntag zu dem Taschenbuch gegriffen und es in einem Rutsch ausgelesen. Der Roman ist perfekt komponiert, klug und durchdacht, hält bis zum Ende seine Spannung und vermag auf den letzten Seiten immer noch zu überraschen.

 

"Die Familie ist eine Form, in die man sein Glück gießt, um ihm konkrete Gestalt zu verleihen. Das ist eine Möglichkeit, sich mit der Alltäglichkeit der Dinge zu versöhnen. Man wählt sich in ein sicheres Gefängnis."

"Unwetter" erzählt die Geschichte von Emilia, die mit ihrem Mann Bruch und ihren zwei kleinen Söhnen Leo und Osip in einem alten Haus abseits des Dorfes im Deichvorland lebt. Emilia war einst, als sie Bruch kennenlernte, eine lebenslustige junge Frau, die ihr Leben in der Stadt sehr schätzte. Doch das war vor einem traumatischen Erlebnis über das Emilia niemals gesprochen hat. Sie hütet das Geheimnis nicht aus Scham oder aus Angst. Sie entschied sich bewusst für das Schweigen, um damit ein Stück Selbstbestimmung wiederzuerlangen. Sie wollte dem Erlebten entfliehen, schwieg und wählte das Leben unter der Glasglocke der Ehe und der Familie. Bruch und sie zogen in das windschiefe Haus in der Einöde, die sich zunächst als Idylle entpuppte. Jetzt, Jahre später, spürt Emilia jedoch nur noch die Schattenseiten der Isolation und zweifelt daran, ob ihre Entscheidungen von damals nicht Fehler waren.

 

"Aber jetzt spürt sie, wie sie selbst die gleiche klamme Unruhe beschleicht. Sie hat ihre Chancen verpasst. Nach zwölf Jahren ist man für die Geheimnisse des anderen nicht mehr so empfänglich wie am Anfang."

Emilia ist sich sicher den Punkt verpasst zu haben, an dem sie ihrem Mann doch noch hätte von dem so sorgsam gehüteten Geheimnis erzählen können. Das Geheimnis holt sie ein, breitet sich in ihr aus, bestimmt ihre Gedanken, beeinflusst ihre Ehe und drängt sich in ihre Familie. Sie kann an kaum etwas anderes denken, hadert mit sich und dem Leben und verliert sich mehr und mehr.
In gleichem Maße, wie die Vergangenheit in Emilia aufbraust und wütet, lässt beständiger Regen das Wasser im Deichvorland steigen. Erst tritt der Bach im Garten über die Ufer, dann bildet er eine dunkle Pfütze im Erdgeschoss des Hauses, bis er schließlich zu einem gurgelnden Strom wird, der alles mitzureißen droht. Und so droht Emilia nicht nur mit dem Haus im wahrsten Sinne unterzugehen, sondern droht auch an ihren Gefühlen zu ersticken.

Lange hat mich ein Text nicht mehr so gefesselt wie dieser schmale, äußerst feinfühlig erzählte Roman. Es geht um die persönliche Freiheit, um Glück und glücklich sein, um die Frage, ob Offenherzigkeit und Intimität Synonyme sind. Es geht um Schmerz, um Einsamkeit, um ein Leben, das sich an gesellschaftlichen Normen orientiert und doch soviel mehr ist, als ein Abbild der Normalität. Nicht zuletzt geht es um Geheimnisse, die jeder von uns in sich trägt und die Frage, was eigentlich der richtige Umgang mit ihnen ist.

Die Niederländische Presse lobt den Roman meiner Meinung nach völlig zurecht. Er gehört definitiv zu den besten Büchern, die ich im Jahr 2020 gelesen habe.

 

Wer noch mehr über den Roman erfahren möchte findet hier ein tolles Video des Kampa-Verlages in dem die Autorin über ihr Buch, die Hauptfigur und deren Beweggründe spricht.

 

Marijke Schermer

"Unwetter"

übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Kampa-Verlag

Taschenbuch: ISBN 978-3-311-15007-7 12€

Hardcover: ISBN 978-3-311-10010-2 20€

 

In der Intensität des inneren Konflikts der Protagonistin hat mich der Roman erinnert an "Scham" (Inès Bayard). Die verzweifelte Einsamkeit mit der Emilia hadert ließ mich an "Die Einsamkeit der Seevögel" (Gøhril Gabrielsen) denken.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Mikka (Mittwoch, 23 September 2020 15:55)

    Hallo,

    das Buch klingt in der Rezension so großartig, dass ich direkt mal nachschauen musst, ob es in der Onleihe oder meinem Legimi-Abo verfügbar ist – und die Antwort ist ja! Sehr schön, dann werde ich es mit Sicherheit noch lesen. Allerdings muss es noch warten, meine Leseliste ist gerade sehr voll!

    LG,
    Mikka